Selbsthilfe in der Irren-Offensive Berlin
Wie minimieren wir untereinander die Reproduktion erlittener Repression?*

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Der Untertitel ist extra vorsichtig ausgedrückt, weil – wie Adorno zurecht sagt – „es kein richtiges im falschen Leben gibt“. Deshalb können wir nur versuchen, die Herrschaftsstrukturen und die damit einhergehenden Repressionen untereinander zu minimieren.

Regeln in der Irren-Offensive

Seit Beginn der Irren-Offensive vor dreißig Jahren sind die Regeln in der Irrenoffensive ganz einfach: Wer zum wöchentlich stattfindenden Plenum kommt und sich selbst der Psychiatrisierung bezichtigt, ist rede-, antrags und stimmberechtigt. Diejenigen, die sich als Nicht-Betroffene bezeichnen, müssen entweder zum Plenum eingeladen worden sein oder ihren Punkt sofort am Anfang vorbringen und, wenn sie danach länger bleiben wollen, Gaststatus erlangen.

Alle Abstimmungen erfolgen mehrheitlich, auch die über den Gaststatus. Folgende Zusatzregeln gibt es inzwischen: Am Anfang jedes Plenumswird ein Protokollführer bestätigt, der in einer Art Logbuch die Beschlüsse des Plenums dokumentiert. Tagesordnungspunkte werden zu Beginn des Plenums vom Protokollführer gesammelt, der sie dann nach der vereinbarten Reihenfolge aufruft.

Wenn zu Wenige kommen (z.B. in der Ferienzeit) wird nur ein „Social Talk“, ohne Beschlüsse zu fassen, geführt.

Genauso haben wir regelmäßig vor dem Plenum eine halbe bis eine Stunde „Social Talk“ – also Jede/r kann mit Jeder/m reden wie gerade gewünscht.

Wir haben regelmäßig KEINEN Versammlungsleiter. Jedoch wird bei großem gleichzeitigem Wortschwall verschiedener Teilnehmer sich jemand so gestört fühlen, dass er/sie sich selber zur/m GesprächsleiterIn macht, also Wortmeldungen der Reihe nach aufnimmt und das Wort erteilt. Wenn dagegen kein Widerspruch kommt, ist das ein spontan akzeptiertes Verfahren.

Unser Anliegen beim Plenum ist es, eine Atmosphäre der Redefreiheit herzustellen, also kein restriktives Reglement, das wiederum vor Abweichungen „geschützt“ werden muss und damit wiederum Autoritäten geschaffen werden müssten, die diesen Schutz vornehmen bzw. gewährleisten, sondern so, dass jede/r sich ausdrücken kann. Zu beobachten ist, dass Leute, die sich wenig zu Wort melden, dann, wenn sie es doch tun, sehr genau wahrgenommen werden und andererseits „Schreihälse“ von verschiedenen Leuten mehr oder weniger deutlich gebeten werden, mal den Mund zu halten und zuzuhören. Das beste Beispiel dafür ist Werner Fuß, nachdem wir unseren Treffpunkt benannt haben: Er hatte einen Sprechfehler und konnte nur sehr leise und mit gequetschter Stimme sprechen. Dass wir nach Werner Fuß unser Zentrum benannt haben, ist auch ein Beweis, dass wir sehr genau auf das schlecht Vernehmbare hören. Denn wenn Werner etwas sagte, dann war es ganz still und ich fand, es war auch immer wirklich bemerkenswert, was er sagte.

Insgesamt funktioniert alles nach dem guten Prinzip, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten wird. Damit unterläuft man die Hauptsäule der Herrschaft, den vorauseilenden Gehorsam, und gibt stattdessen der Phantasie Raum, der Abweichung, dem Ungewöhnlichen und Unerwarteten.

Es geht regelmäßig lebhaft bei uns zu, weil oft durcheinander geredet wird und wir uns gerade nicht gegenseitig ungewöhnliches Verhalten austreiben wollen, „therapieren“ wollen, sondern uns nur gewaltfrei organisieren wollen und viel lachen.

Eine weitere Regel ist, dass wir nur bei schweren Delikten wie Körperverletzung oder Brandstiftung die Polizei holen würden, also nicht den Staat zur Schlichtung unserer Auseinandersetzungen hinzuziehen wollen. Das schafft besondere Schwierigkeiten, auf die ich aber hier jetzt nicht eingehen will.

Schwerpunkte des Handelns

Ich möchte ein bisschen ausholen, um den Hintergrund unseres Handelns zu erklären.

Die Irren-Offensive verstehen kann man dann, und nur dann, wenn man sie als eine politische Gruppe begreift. In dem Moment, wo man sie zu einer Selbsthilfegruppe verflachen würde, würde man ihr nicht nur Gewalt antun, sondern ihren wesentlichen Charakterzug verkennen. Dass wir in diesem politischen Konzept uns auf Betroffene als handelnde Subjekte beschränkt haben, hat taktische Gründe, keine fundamentalen. Dahintersteht, dass im Falle der Psychiatrie das Rechtssystem sich in sein völliges Gegenteil gewendet hat, weshalb der Staatsanwalt nicht die Verbrechen, die dort systematisch begangen werden, erkennt, geschweige denn anklagt, sondern der Betroffene selbst klagen muss. Klagen ist dabei vor allem in einem bildlichen Sinne gemeint. Diese Klage sollte stark gemacht werden, wenn sie durch die Stimme der Betroffenen erhoben wird. Dieser Ansatz verkennt aber ein grundsätzliches Paradox: In dem Moment, wo wir klagen, anklagen, deklarieren wir uns selbst auch zum Opfer. Diese Rolle ist aber genau die, in die uns die Psychiatrie bringen will: Wir sollen Geschädigte sein, wir sollen kaputt gemacht werden und deshalb ist das Klagen für die Täter erst mal vor allem eine Bestätigung des Erfolgs ihrer psychiatrischen Maßnahmen. Das Ziel war ja gerade, uns einzuschüchtern, zu kränken, zu verleumden, mundtot zu machen und zu lähmen.

Um diesem Paradox zu entkommen, muss unser Ansatz ein anderer sein, wir müssen politisch agieren, also wohl oder übel selbst zu – wohlgemerkt nicht kriminellen – „Tätern“ werden. Es gilt also Aktion zu entwickeln, sodass den Verteidigern des Gewaltsystems nur zweierlei reaktionäre Möglichkeiten zur Wahl bleibt: entweder offen repressiv zu werden, wie es zum Beispiel der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener als Compliance-Handlanger der Psychiatrie gegen den Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg geworden ist, indem er dem Landesverband 2004 sein satzungsgemäßes Stimmrecht genommen hat; oder, was die andere Reaktion darstellt, integrative Schritte zu unternehmen. Bei der integrativen Reaktion sind zwei Versionen zu unterscheiden:

a) Der reine Schein der Integration, nur um Aktive zu blenden und zu lähmen. Das ist der Modus, auf den sich die Sozialpsychiatrie festgelegt hat: Es werden völlig belanglose Pöstchen und Kaffeekränzchen geschaffen, mit denen der Schein erweckt werden soll, es gäbe für Betroffene etwas zu sagen, ja sogar Psychiater würden ihnen angeblich „zuhören“. Es wird dann tatsächlich zur reinen Verhöhnung der Betroffenen, wenn Sie sich so einen Bären aufbinden lassen. Sie gehen damit noch einmal der zentralen Strategie der psychiatrischen Täter auf den Leim, die über eine Individualisierung und damit Entpolitisierung der Opfer läuft: Individuelle Diagnosen werden verteilt, es sei ein angeblicher individueller „Defekt“ in der Person, sei es in deren Geschichte oder womöglich in deren Biologie, ihrem Hirnstoffwechsel usw., der zu der psychiatrischen Verleumdung und Misshandlung führe. Genau diese Individualisierung, diese Vereinzelung hat Erfolg gehabt, wenn die Betroffenen als Reaktion darauf beweisen wollen, dass sie persönlich doch nicht „krank“ gewesen seien (alle anderen allerdings sehr wohl) oder indem sie abstruse Hoffnungen hegen, durch einen Psychiater von der rufmörderischen Akte befreit zu werden, indem er sie als Mensch wieder anerkennen möge, weil er mit ihnen ein Gespräch führe. Das ist beispielsweise die Masche, mit der meiner Ansicht nach Dorothea Buck reingelegt wurde, da bei allem Engagement für das „miteinandersprechen“, institutionalisiert im Trialüg Trialog, verkannt wird, dass „die“ immer von sich aus mit „uns“ hätten sprechen können. Die Ärzte konnten selbstverständlich mit „uns“ genauso wie mit Juden sprechen, bevor sie diese in der Gaskammer ermordeten. Dieser Ansatz verkennt leider systematisch, dass sie mit „uns“ bzw. Dorothea Buck, nicht reden wollen. Denn sie sehen uns wie durch eine Aquariumscheibe, die Aquariumscheibe der Macht, durch die Primo Levi von Dr. Pannwitz angeschaut wurde, als er in Auschwitz von Dr. Pannwitz begutachtet wurde. Denn Zwangspsychiatrie ist die Negation des Subjekts, die umfassende Entwürdigung einer Person, die Unterscheidung von Mensch und Untermensch, das ist deren Programm und deshalb wird das „miteinander reden“ von Seiten der Psychiatrie nur für einem Scheindialog genutzt, der die tatsächlichen Gewaltverhältnisse noch einmal kaschiert. Dahinter wird die blanke Neo-Nazi-Eugenik wieder hochgezogen, psychiatrische Genetik, die modernisierte Erbhygiene. Die Zusammenarbeit des Bundesverbands mit den deutschen Psychiatern genau an diesem Punkt, deren Deutschland-Kongress über psychiatrische Genetik 2004, ist der besondere Frevel, den der BPE mit seiner aktiven Teilnahme an diesen Kongress begangen hat und der durch die Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener (die-BPE) beantwortet werden musste.

Nochmal kurz zurück zum Aquariumblick, um diesen Punkt für Unvorbereitete zu erklären: In seinem Buch „Ist das ein Mensch“ beschreibt Primo Levi, wie er von Dr. Pannwitz, dem Chef der chemischen Abteilung von Auschwitz, ausgefragt wird. Levi war Chemiker von Beruf. Eine Arbeit in der chemischen Abteilung könnte ihn vielleicht vor der Vernichtung bewahren. Als er in seiner KZ-Uniform auf der andere Seite des Schreibtisches stand, sah Dr. Pannwitz ihn an, als blicke er auf einen Fisch im Aquarium. So war Primo Levi noch nie von jemandem angesehen worden – und er hat die Bedeutung dieses Blickes nie vergessen. Hier fand eine Begegnung zweier Menschen statt, als sei sie die zweier Gattungen.

b) Was wäre eine tatsächlich integrative Reaktion? Obwohl dieser Schritt selbstverständlich von der Täterseite ausgehen müsste, nicht von den Geschädigten und Misshandelten, haben wir es noch einmal von uns aus versucht. Die wesentliche Frage, um zu entscheiden, ob es tatsächliche Integrationsschritte gibt oder nur Nebelkerzen zur Verwirrung gezündet werden, ist die Frage des Zwangs in der Psychiatrie: AUSSCHLIESSLICH wenn die psychiatrischen Unterdrücker als Vorbedingung die Beseitigung ihrer Zwangsmittel akzeptiert haben, können die Integrationsbemühungen nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung des Problems werden. Dann, und erst dann, kann Kommunikation als Gespräch, als Dialog, meinetwegen sogar Trialog stattfinden, weil ein Gespräch und Befehle-Geben sich gegenseitig ausschließen: Befehle sind Teil eines militärischen Umgangs und es geht typischerweise in diesem Feld um die Zerstörung oder zumindest die angedrohte Zerstörung Anderer.

Da es seit dem 1. Januar 1999 die Vorsorgevollmacht gab (inzwischen gibt es seit dem 18. Juni 2009 den Nachfolger der speziellen Vorsorgevollmacht Vo-Vo – die PatVerfü® mit eingebauter Vorsorgevollmacht), hatten wir dem Chef der Universitätspsychiatrie der Charité ein Gespräch angeboten und darin dessen Anerkennung dieser neuen Rechtsnorm zur Bedingung weiterführender Gespräche gemacht. Wie verlogen die Psychiater sind und dass man eigentlich grundsätzlich keinem Folterer überhaupt je Glauben schenken darf, haben wir dann erfahren: Er hat es uns schriftlich gegeben, dass er sich an diese neue Regelung hält und trotzdem hat er ein halbes Jahr danach genau das absolute Gegenteil getan: Unter seiner Oberaufsicht wurde einer erwachsenen Person vier Jahre rückwirkend die Geschäftsfähigkeit gutachterlich abgesprochen, nur um damit deren Vorsorgevollmacht unwirksam machen zu können und die eigenen Foltermaßnahmen gerichtlich legalisieren zu können.

Um es mal ganz drastisch auszudrücken: Psychiatrie ist ein teuflisches Gewerbe, in dem grundsätzlich keine der Grundlagen für Vertrauensbildung Gültigkeit hat, also nur JEDES Misstrauen dagegen sinnvoll ist. Wer also wirkliche Veränderung will, sollte grundsätzlich mit allen, nur nicht mit Leuten dieses Gewalt- und Unterdrückungssystems reden, weil es NUR von außerhalb de-legitimiert und zersetzt werden kann.

Das gibt noch einmal einen Hinweis auf unser politisches Vorgehen: Wir richten uns mit unserem Handeln als Gruppe an die Öffentlichkeit, NICHT an die Psychiatrie. Denn im öffentlichen Raum, durch politische Entscheidungen, müssen die Gesetze abgeschafft werden, die – unvereinbar mit den Menschenrechten – einen bestimmten Teil der Bevölkerung per psychiatrischer Zuschreibung zu Untermenschen macht. Wir beteiligen uns nicht an irgendwelchen Kommissionen, Beiräten und Katzentischen, sondern haben uns inzwischen auch in der Satzung als Menschenrechtsgruppe definiert. Verschiedene Formen der Öffentlichkeitsarbeit sind der Schwerpunkt unseres Handelns. Da die Medien uns systematisch ausblenden, es also ein Totschweigesystem um die schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie gibt, haben wir unsere eigenen Medien geschaffen und eng mit unseren Aktionen und Kampagnen verzahnt – unsere Zeitung, unsere Internetpräsenz und unsere Radiosendungen als „Dissidentenfunk“.

* Vortrag beim Selbsthilfetag des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener NRW in Bochum am 9.4.2005. Aktualisiert 2010

© Autor: René Talbot
Veröffentlicht mit Zustimmung des Plenums am 13.4.2005/18.8.2010
Erstveröffentlichung im "Lautsprecher Nr. 9", Seite 9.
Veröffentlicht auch im Buch "Irren-Offensive - 30 Jahre Kampf für die Unteilbarkeit der Menschenrechte", Verlag AG SPAK BÜCHER

 

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